Die Zeit von Günter Netzer ist abgelaufen
Zur Thematik Fußball hat fast jeder eine Meinung. Besonders wenn es um Kommentatoren geht. Die dürfen ungestraft dem Millionen-Publikum ihre Weisheiten ins Ohr blasen. Trotzdem ist die EM-Berichterstattung im Fernsehen besser als ihr Ruf. Auswechseln möchte man allerdings nur zwei Herren.
Fußball ist ein ideales Betätigungsfeld für Oberlehrer und Besserwisser. Nirgendwo sonst lässt sich (vermeintliches) Fachwissen so treffend anbringen; hier noch glauben Männer, wenn sie über Strafstoßentscheidungen oder Mittelfeldrauten räsonieren, daran, zum Erklärer aller Probleme berufen zu sein. Ungerecht ist nur, dass all diese kundigen Stimmen, die in Wirtshäusern oder Wohnzimmern während eines Spiels ertönen, so wenig Wirkung zeigen, wohingegen die Poschmanns, Simons, Réthys und Kerners dieser Welt die Lizenz haben, ihre Kommentare einem Millionenpublikum ins Ohr zu blasen.
Wie im Fernsehen über Fußball gesprochen wird, ist für diejenigen, die nicht im Fernsehen über Fußball sprechen dürfen, eine Demonstration der Inkompetenz. Sich über Reporter zu mokieren gehört zu den Selbstverständlichkeiten eines Fußballabends. Das ist ehernes Gesetz, und nur verblendeten Nostalgikern will es so scheinen, als sei früher alles besser gewesen, als hätten wir damals Freude an dem gehabt, was die Anzugträger der „Sportschau“ zum Besten gaben. Seien wir ehrlich: Wer sehnt sich nach Ernst Huberty, Fritz Klein oder Hans-Joachim Rauschenbach zurück, wer schon möchte deren gemächliches Kaffeekränzchengeplaudere wiederhaben?
Der Fußball in seiner Durchvermarktung hat die Gemächlichkeit von einst verloren, eine logische Konsequenz, die dem gesamtgesellschaftlichen Weltenlauf entspricht. Wo TV-Lizenzen und Werbeeinnahmen das Geschehen diktieren, verändern sich die Formate, regiert das Infotainment. Das ist bei dieser Europameisterschaft kaum anders als bei früheren Turnieren, und was ARD und ZDF in diesen Tagen auffahren, bietet ordentliches Handwerk und zugleich eine tiefe Scheu vor Neuerungen.
Nichts ist schlimmer als unendliches Vorgeplänkel
Dass Reinhold Beckmann und Johannes B. Kerner nicht mehr aktiv als Kommentatoren eingreifen, wird niemand bedauern, doch unter ihren Nachrückern tut sich keiner sonderlich hervor. Steffen Simon und Tom Bartels verwalten das Spielgeschehen solide, aber uninspiriert. Während sich Bartels beim Gipfel gegen Österreich in eine skurrile Angela-Merkel-Begeisterung hineinsteigerte, hatte Simon seine Sternstunden, als er bei van Nistelrooys umstrittenem Tor gegen Italien erstaunliche Abseitsregelkenntnis verriet und die deutsche Wiederaufstehung gegen Portugal begleitete. Béla Réthy weiß vielleicht am besten über Hintergründe Bescheid – umso unangenehmer, dass er sich zu oft in Details verzettelt und für sprachliche Konfusionen sorgt: „Die Qualität des Ballbesitzes ist noch nicht ausreichend.“ Fußballenthusiasten können mit diesem Leid umgehen und wissen, wie man einem Übermaß an Sekundärweisheiten entgeht.
Die Neigung, die Berichterstattung mit Ingolf Lück und Waldemar Hartmann in unerträgliche Länge zu ziehen, zwingt dazu, den Fernsehapparat nicht zu früh ein- und auch nicht zu spät auszuschalten. Denn nichts ist schlimmer als unendliches Vorgeplänkel und nachträgliches Analysieren, das aus jeder Geste und jedem Spielzug nicht vorhandene Tiefen herausarbeiten will.
Der einstige "Rebell am Ball" auf den Spuren Otto Rehhagels
Eines lehrt diese Europameisterschaft: Die Zeit von Günter Netzer ist abgelaufen. Sein in besten Zeiten gekonnt ironisch vorgetragener Stoizismus erweist sich inzwischen als staubtrockenes Vorsichhinsprechen, das der Komplexität modernen Fußballs nicht mehr gerecht wird. So wandelt der einstige „Rebell am Ball“ auf den Spuren Otto Rehhagels, ist nicht in der Lage, mehr als stereotype Kommentare abzugeben, und wirkt wie ein alter Onkel, von dem auf Familienfeiern niemand weiß, wer ihn mitgebracht hat. Es genügt, Netzers „Analysen“ mit den unbekümmert-burschikosen Randbemerkungen Mehmet Scholls oder den spritzig professionellen Erklärungen Jürgen Klopps zu vergleichen, um die Abgründe zu erkennen, die sich da auftun. Die ARD täte gut daran, Netzer in den Ruhestand zu schicken, wo er mit dem stets vergeblich mit der deutschen Grammatik ringenden ZDF-Experten Urs Meier auf einer Parkbank sitzen und die Ereignisse aus der Ferne betrachten könnte.
Und sonst? Wohltuend wirkt die Zurückhaltung, mit der die meisten Reporter mittlerweile strittige Abseitsentscheidungen beschreiben. Das Fernsehbild suggeriert hier – trotz des dankenswerten Verzichts auf die virtuelle Abseitslinie – eine falsche Eindeutigkeit, und so werden im Laufe eines langen TV-Abends bei längeren Betrachtungen aus falschen Pfiffen plötzlich richtige. Vielleicht ist es ja sogar möglich, wenn schon nicht Trainern und Spielern, so doch Zuschauern einzubläuen, wann Handspiele zu ahnden sind und wann nicht. Wenn sich Monica Lierhaus & Co. dann noch trauen, dem deutschen Trainerstab nicht nur mit bewundernder Ehrfurcht gegenüberzutreten, sind wir fast zufrieden mit dem, was das Fernsehen uns in diesem EM-Sommer beschert hat.