Das Rollenprofil des Hauptmanns in Georg Büchners „Woyzeck“
Das Drama „Woyzeck“ von Georg Büchner wurde im Jahre 1836 geschrieben und handelt von dem psychisch gequälten Woyzeck, der durch soziale Ungerechtigkeiten deklassiert und schließlich zum Mörder wird. Woyzeck ist Opfer als Soldat und Diener, als Objekt medizinischer Experimente, als Hahnrei, zu dem ihm seine Geliebte Marie macht.
Das Opfer ist hier eine getrieben Persönlichkeit, kein handelndes Subjekt. Dumpfe Kreatürlichkeit, existentielle Angst, Verzweiflung und Eifersucht plagen Woyzeck; Wahnvorstellungen treiben ihn ins Verderben: er ersticht Marie.
Im nun folgenden Text wird versucht, ein Rollenprofil des Hauptmanns zu erstellen aus der Sicht des Regisseurs, dass dessen dramatische Brisanz darstellen wird.
Das Aussehen des Hauptmanns
Der Hauptmann, ca. 50 Jahre alt, ist von untersetzter Statur, hat einen Hang zur Fettleibigkeit und trägt eine Generalsuniform, wie sie zur damaligen Zeit üblich war. Er ist Vollbartträger, aber auf dem Kopf trägt er eine Halbglatze mit kurzen Haaren.
Er beherrscht die sittlichen Umgangsformen und ist in fast allen Themengebieten gebildet.
Bei Diskussionen gestikuliert er wie wild geworden, pocht auf sein Recht und eckt mit seiner Art oft bei andern Menschen an, ohne aber von diesen für sein Benehmen ermahnt zu werden.
Das Verhalten des Hauptmanns
Szene 1: Der Hauptmann ist in ein Gespräch mit Woyzeck vertieft. Im Verlauf dieses Gesprächs wirft der Hauptmann Woyzeck vor, keine Moral und Tugend zu besitzen und klagt ihn wegen seines ehelosen Kindes an.
„Woyzeck, Er hat keine Moral! Moral, das ist, wenn man moralisch ist, versteht Er.“, „Woyzeck, Er hat keine Tugend“, „Er hat ein Kind, ohne den Segen der Kirche, wie unser hochehrwürdiger Herr Garnisonsprediger sagt, ohne den Segen der Kirche, es ist nicht von mir.“
Der Hauptmann agiert in dieser Szene so, als wolle er Woyzeck seinen überlegenen Intellekt spüren lassen („Er hat keine Moral“) doch dabei verkennt er zu spät, dass er sich in seinen verbalen Ausführungen verliert und Woyzeck ihm ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen ist „Ja, Herr Hauptmann, die Tugend, ich hab’s noch nit so aus. Sehn Sie, wir gemeine Leut, das hat keine Tugend, es kommt einem so nur die Natur; aber wenn ich ein Herr wär und hätt ein’ Hut und eine Uhr und eine Anglaise und könnt vornehm reden, ich wollt schon tugendhaft sein. Es muss was Schönes sein um die Tugend, Herr Hauptmann. Aber ich bin ein armer Kerl“.
Wann immer Woyzeck eine kesse Antwort auf die Aussagen des Hauptmanns gibt, ist dieser zunächst verwirrt und verliert sich dann in Ausflüchten. „Was sagt Er da? Was ist das für eine kuriose Antwort? Er macht mich ganz konfus mit Seiner Antwort.“ „Du bist ein guter Mensch, ein guter Mensch. Aber du denkst zu viel, das zehrt; du siehst immer so verhetzt aus. – Der Diskurs hat mich ganz angegriffen.“
Dieses Verhalten aus „Agitation - Niederlage - erneute Agitation – erneute Niederlage usw.“ zeigt deutlich, dass der Hauptmann ein Polemiker ist, der durch sein angelesenes und durch dritte erworbenes Wissen ( „wie unser hochehrwürdiger Herr Garnisonsprediger sagt“) in der feinen Gesellschaft zu Punkten versucht.
Woyzeck dagegen, der aus der untersten Schicht kommt, schafft es immer wieder, den Hauptmann mit selbst erdachten, hochphilosophischen Aussagen zu verwirren und ihm so seine Unwissenheit vor Augen zu führen. „Herr Hauptmann, der liebe Gott wird den armen Wurm nicht drum ansehen, ob das Amen drüber gesagt ist, eh er gemacht wurde. Der Herr sprach: Lasset die Kleinen zu mir kommen“, Ich glaub, wenn wir im Himmel kämen, so müssten wir donnern helfen“.
Szene 10 : Die zehnte Szene lässt sich in zwei Dialogfelder einteilen. Das erste ist das Gespräch zwischen Hauptmann – Doktor, das Zweite Hauptmann – Woyzeck + Satzeinwürfen des Doktors.
Im ersten Dialog diagnostiziert der Doktor dem Hauptmann eine Krankheit, die im Endstadium zur Lähmung führen kann.(„Sie können eine Apoplexia cerebri kriegen; Sie können sie aber auch nur auf der einen Seite bekommen und dann auf der einen gelähmt sein...“) Daraufhin der Hauptmann: „Herr Doktor, erschrecken Sie mich nicht! Es sind schon Leute am Schreck gestorben, am bloßen hellen Schreck.“
Plötzlich kommt Woyzeck daher gerannt, der Hauptmann hält ihn mit einer belanglosen Aussage auf und deuten die Liebesbeziehung zwischen Marie und dem Tambourmajor an. „Wie is, Woyzeck, hat Er noch nicht ein Haar aus einem Bart in seiner Schüssel gefunden?[...] Ein Haar von einem Menschen, eines Sapeurs, eines Unteroffiziers, eines – eines Tambourmajors?“
Dieses Thema interessiert Woyzeck, verunsichert ihn aber zugleich, da er befürchtet, so Marie für immer zu verlieren „Was wollen Sie sagen, Herr Hauptmann“. Am Abschluss dieser Szene philosophiert Woyzeck wieder „[...] Herr Hauptmann, Ja und Nein? Ist das Nein am Ja oder das Nein am Ja schuld?“, der Hauptmann versteht es nicht und pauschalisiert seine Aussage „Mir wird ganz schwindelig vor den Menschen“, schweift vom Thema ab „Wie schnell! Der lange Schlingel greift aus ...“. Der Hauptmann vermeidet hier gezielt die Aussage: Mir wird ganz schwindelig vor DEM Menschen, also Woyzeck. Würde der Hauptmann hier seine Aussage nicht verallgemeinern, könnte ihn der Doktor für dumm halten, da er Woyzecks Worte nicht versteht.
Schlussbetrachtung
Die Figur des Hauptmanns ist von untersetzter Gestalt, ein wenig arrogant und ein Polemiker.
Er lebt in seiner eigenen Welt und kümmert sich nur nebenbei um seine Umwelt.
Die wohl am wichtigste Frage, die in dieser Hausaufgabe beantwortet werde soll, ist wohl diese: In wie weit ist der Hauptmann an der Tat Woyzecks schuld?
Zwar spielen Woyzecks gesellschaftliche Bindungen durchaus eine Rolle, doch dürfen diese nicht überbewertet werden. Woyzecks Wesen und Handeln sind durch seine Armut bedingt, aber für sein Verbrechen ist letztlich seine soziale Lage nicht entscheidend. Die Ursachen müssen darum im emotionalen Bereich gesucht werden. Woyzeck hat Jahre lang Armut und gesellschaftliche Geringschätzung ertragen, aber nicht den Verlust der Liebe durch Marie.