AGFA präsentiert: Der Eiserne Mann

Outrider|EXIL

Guest
Hier werden in unregelmäßigen Abständen einzelne Kapitel der Geschichte gepostet. Da ich diese aus einer Geschichtensammlung entnehme werde ich keinen Anspruch auf die Vollständigkeit selbiger erheben.

Paul Féval
Der Eiserne Mann

Der halbierte Kranz

Auf dem kieselbedeckten Hang reichte das Getümmel bis zum Gipfel - ein freies und uneingeschränktes, durch nichts gebändigtes, sich selbst überlassenes, übermütiges, lärm- und rauflustiges, ein wenig berauschtes Getummel. Es waren hier Normannen und Bretonen, junge und ältere, Männer und Frauen.
Dazwischen standen Esel herum und überall gab es Schemel und Karren, um die sich leidenschaftliche Händel entspannten. Ihre Besitzer wollten sich nämlich draufstellen, während die anderen hinter ihnen das zu vereiteln suchten. Und darum gerieten sie sich in die Haare. Aber was wäre das schon für eine Volksbelustigung, bei der sich die Leute nicht in die Haare gerieten?
Die Fischerin Catiolle und der Bogenschütze Huguet stellten sich Schulter an Schulter. Auf diesem Thron nahm der Zwerg Eisenbrech Platz, verzehrte seine geliebte Pastete und öffnete die Schleusen seiner Beredsamkeit.

"Schaut unseren Herzog an! Und ich bin sein Mundschenk! Wer meiner Fürbitte bedarf, mag sich getrost an mich wenden! Ob wohl König Ludwig XI. so gut zu Pferde sitzt? Unser Herzog könnte sich ruhig auch als Soldat sein Brot verdienen!"

Die Menge brach jubelnd in Bewunderungsrufe aus. Das einfache Volk betet immer leibliche Schönheit und Trefflichkeit an, und dieser Herzog Franz, wie er hier auftrat, war bestimmt der schönste Soldat seiner Armee.

"Und wenn ihr erst seht, wie er mit seiner Lanze umgehen kann!"
fuhr der Zwerg fort und kicherte, ohne dass die Leute wussten weshalb.
"Ich bin sein Mundschenk und kenne sein Talent. Seht, der sechste Ritter hinter dem Herzog ist Herr Coetquen, mein einstiger Gebieter. Ich wüsste nichts schlechtes über ihn zu berichten; das genügt wohl als Lobrede, nicht wahr?
He! Marcou! Mathurin! Pélo! Ihr da, Leute von Kergariou! Seht mal dort hinten! Unser Stallmeister Jean hat wohl wieder Bauchschmerzen!"

Alle brachen in brüllendes Gelächter aus. Denn gerade in diesem Augenblick brachte Aubry dem armen Stallmeister ein Glas Wein.

"Ich habe Herzog Franz in Nantes gesehen", lispelte der zahnlose Mathurin, "aber da sah er nicht halb so stattlich aus wie jetzt. Damals erinnerte er mich an den Stallmeister wenn er seine Kolik hat. während er heute einem kerngesunden Jean ähnelt."
Diese Behauptung brachte Mathurin von den Umstehenden Scheltworte und von seiner Frau Goton drei derbe Rippenstöße ein, da er ihr angeblich nur Schande mache.
"Sieh an, so geht es jedem der laut die Wahrheit sagt", murmelte Eisenbrech in seinen Bart.
"Und jetzt hört mich an, Leutchen! Gestern habe ich mich in König Ludwigs Schrein versteckt und weiß nun endlich, wie er mit Olivier le Dain, seinem Barbier, spricht! Kann sich von euch jemand rühmen, er habe der Morgentoilette des Königs beigewohnt? Nun, und heute habe ich sogar statt dem Reichtum der Ehre den Vorzug gegeben und bereue es kein bisschen. Noch gestern dachtet ihr, man hätte mich gesotten, doch ich entstieg dieser Feuerprobe als Edelmann! Bretagne! Malo! So schreit doch, damit uns die verdammten Normannen nicht übertönen mit ihrem Schlachtruf Montjoie! Saint-Denis!"

Durch die Menge ging es wie Sturmgebraus, lärmend mischten sich die Schlachtrufe beider Seiten. Indessen setzten sich die Gruppen, die zu beiden Seiten des Turnierplatzes standen, allmähnlich in Bewegung, um rund um ihn herumzureiten. An den Masten waren die Flaggen der Bretagne und Frankreichs gehisst. Es erklangen Fanfaren. Endlich hob der erste Akt des so lange erwarteten Schauspiels an. Die Geharnischten ritten am Thron vorbei und Ludwig XI. nickte den grüßenden Bretonen freundlich zu; so freundlich, dass der Herzog von der Guyenne seinem Nachbarn, Herrn von Chabannes, zuflüsterte: "Freund, mir dünkt, hier lauert Verrat."
Frau Regina erblickte die stattliche Gestalt ihres Sohnes und errötete vor Freude. Herr du Dayron beglückwünschte sie aufrichtig. Aubry saß wirklich prächtig zu Pferde, und augenscheinlich schenkte ihm selbst der Herzog Franz seine Aufmerksamkeit. Er drehte sich sogar noch viermal nach ihm um.
Dagegen gönnte der Stallmeister Jean, der mit den übrigen Geharnischten am Ende des Turnierplatzes zurückgeblieben war, seinem Gebieter keinen einzigen Blick. Aber genügt es denn nicht, dass Frau Regina, Berta, Jeannine und Franz von der Bretagne dem jungen Aubry Achtung gezollt hatten?
Dann traten Pagen aus dem Zelt des Königs und schlugen fünfzehn Pfähle mit Wappenschildern in die Erde. Vierzehn gehörten offensichtlich den neuen Sankt-Michaels-Rittern.
Das fünfzehnte stellte ein silbernes, aus dem Sand ragendes Kreuz dar; es trug eine Grafenkrone und den Wahlspruch DER SCHÖNSTEN!
"Was bin ich doch für ein Einfaltspinsel!", schrie der Zwerg und schlug sich vor die Stirn. "Habe ich doch ganz vergessen zu erzählen, dass der Eiserne Mann König Ludwigs XI. Vetter und anstelle unseres Herzogs Franz heute Sankt-Michaels-Ritter wurde! Doch Geduld! Noch ehe die Flut steigt werdet ihr von all dem so viel sehen, dass euch die Augen übergehen!"
Als die Ritter den Turnierplatz umrundet und den König und die Damen gegrüßt hatten, kehrten sie auf ihre alten Plätze zurück.
Das Turnier wurde mit einer Reihe hartnäckiger Treffen eröffnet, bei denen jeder Teilnehmer nur einen einzigen Lanzenstich anbringen durfte. Baron Olivier d'Harmoy stürmte mit offenem Visier vor und warf seinen Gegner augenblicklich aus dem Sattel. Er erntete den ersten Beifall, aber gleich darauf tauchte er im Gedränge der Ritter unter, und die Augen der Damen suchten ihn vergebens. Kurz danach erschien ein Ritter in einer schwarzen Rüstung. Er saß auf einem außergewöhnlich starken Rappen, sein Visier war geschlossen und das rote Band, das an seiner Lanze flatterte, trug die goldene Inschrift DER SCHÖNSTEN! König Ludwig zuckte zusammen, als er den Ritter in den Schranken sah, die Damen begannen aufgeregt zu flüstern, und der Zwerg Eisenbrech, der diesmal ungemein verblüfft war, sprach leise den Namen des Eisernen Mannes aus. Die Zuschauer gaben diese Nachricht von Mund zu Mund weiter und durch die Menge ging ein Rauschen wie von Meereswellen.
Der Eiserne Mann setzte sich an die Spitze der Inselritter und blieb dort unbeweglich stehen. Pferd und Ritter wirkten wie ein Reiterdenkmal aus schwarzer Bronze.
Der zweite Ritter, dem ein guter Treffer gelang, war Aubry von Kergariou. Frau Regina befand sich auf dem Gipfel des Glückes.
Als es Aubry nicht gelangt, Jean zu einem Gegenschlag zu bewegen, behielt er die Lanze, die ihm Olivier d'Harmoy gesandt hatte. Das Schicksal hatte ihn dem stattlichen Flamen gegenübergestellt, und der holte auf seinem elsässischen, schweren Pferd zum Schlag gegen ihn aus. Auby senkte die Lanze und machte sich nicht einmal Hoffnung, denn er erinnerte sich an die zahlreichen Niederlagen, die ihm manch tapferer Ritter beigebracht hatte. Aber kaum hatte die Lanze den Flamen berührt, flog dieser aus den Steigbügeln und fiel zur großen Zufriedenheit des Publikums in den Sand. Aubry senkte den Kopf.
Ein Gefühl tiefer Beschämung erfüllte ihn. Er wagte weder, seinen Blick zu Jeannine zu erheben, der Tränen in den Augen standen, noch seine Mutter anzublicken, die blind vor Stolz laut in die Hände klatschte. Die Lanze brannte ihm in der Hand, er schämte sich seines Sieges. In solchen feierlichen Augenblicken wird der Mensch schnell erwachsen, besonders, wenn er vor jenem großen Richter steht, der sich die Welt nennt. Das Gewissen schlug Aubry um des Beifalls willen, er wandte sich um, ritt in die letzte Reihe der bretonischen Ritter und zerbrach dort die unwürdige Waffe überm Knie.
Dann nahm er eine andere Lanze und wartete. Die Zweikämpfe der bretonischen und französischen Ritter dauerten an. Gerade jetzt warfen zwei von ihnen die zersplitterten Streitäxte fort und griffen zu den Streitäxten. Die scharmützel waren vorbei, nun begannen harte Kämpfe. Beide Ritter rangen um den goldenen Kranz, den Frau von Torcy in den Händen hielt, und die Herolde spornten die Rivalen zum Kampf an.
Das war jedoch überflüssig. Jener der beiden, dessen Wappen keinen Wahlspruch trug, hatte sich schon beim Lanzentreffen als hervorragender Streiter erwiesen. Rings um die Schranken wurde behauptet es handle sich um den Grafen von Dunois. Der andere war der Eiserne Mann. Beide fielen aus allen Kräften übereinander her. Es dauerte nicht lange, da versetzte Dunois seinem Gegner einen so heftigen Schlag, dass dieser aus dem Sattel flog. Darauf stieg auch Dunois aus den Steigbügeln, aber beim nächsten Schlag brach seine Streitaxt und er warf sie fort.
Der Eiserne Mann ließ seine darauf ebenfalls fallen. Wie man sah, hielt er trotz all seiner Verwerflichkeit die Ritterregeln ein. Beide zogen das Schwert und warfen sich erneut in den Kampf. Die Zuschauer stießen erregte Rufe aus, und von Norden antwortete ihnen das Rauschen des Meeres; die Flut nahte. Der Eiserne Mann und Dunois rangen erbittert. Nach etwa einer Viertelstunde sank Dunois in die Knie, und aus dem gespaltenen Helm quollen seine weißen Haare.
"Freund", rief ihm König Ludwig XI. hämisch grinsend zu, "du tatest, was du konntest, aber das Glück war dir leider nicht hold!"
Der Eiserne Mann hob grüßend sein Schwert. Es erklangen Trompeten, Ludwig XI. nickte und Dunois begab sich, gestützt von Jean von Ploec und Herrn von Coetquen ans westliche Ende des Turnierplatzes. Die Menge klatschte Beifall und brachte Hochrufe aus.
Der Eiserne Mann trat, umringt von den französischen Rittern, vor die Tribüne und grüßte den König und den Hochadel. Frau von Torcy beugte sich über das Geländer und reichte ihm den Kranz. Er empfing ihn kniend, dann erhob er sich und schwang sich in den Sattel, um nach hergebrachter Sitte den Turnierplatz zu umreiten.
"Visier auf! Visier auf!" dröhnte es von den Tribünen. So machten die Zuschauer ihr Recht geltend; Der Ritt um die Schranken sollte das Antlitz des Siegers zeigen. Der Eiserne Mann zügelte sein Pferd, schien zu zögern.
 
Back
Top Bottom