Auszug von einem meiner Lieblings-Japan-Blogger:
Drei Dinge vorneweg:
1) Erreichbarkeit
Diese Webseite befindet sich auf einem Server in meinem Büro (vorübergehend). Angeblich kann es in den nächsten Tagen zu Stromausfällen kommen, da es zwangsläufig zu Engpässen kommt. Sollte dies auch in der Innenstadt von Tokyo der Fall sein, wird diese
Seite für eine Weile nicht erreichbar sein. In diesem Fall werde ich Freunde und Bekannte auf meiner Facebook-Seite auf dem Laufenden halten.
2) Eine allgemeine Bitte - wenn Ihr Freunde oder Bekannte in Japan habt: NICHT ANRUFEN! Die Telefonnetze sind stark beschädigt und die verbliebenen Resourcen werden für wichtigere Dinge gebraucht!!! Internet hingegen ist kein Problem, also lieber über Twitter, Skype, Facebook usw. kontaktieren
3) Deutsche Medien, hütet Euch vor offensichtlich falschen Informationen!
Es war teilweise von einer Kernschmelze im AKW in Fukushima die Rede. ZUM JETZIGEN ZEITPUNKT KONNTE EINE KERNSCHMELZE NICHT FESTGESTELLT WERDEN. Also, nicht zu schnell schiessen - bei so einer ernsten Angelegenheit sollte man erst etwas schreiben, wenn man weiss, dass es stimmt.
Stichpunktartig ein Update:
AKW
--------------------
Zwei Reaktorblöcke in zwei verschiedenen AKW in der Präfektur Fukushima (ca. 250 km nördlich von Tokyo) haben ernsthafte Schwierigkeiten. Alle insgesamt 7 Blöcke haben sich während des Erdbebens automatisch abgeschaltet. Allerdings herrschte danach auch in den AKW Stromausfall, und Teile der Notstromversorgung und Notkühlmittelbehälter wurden von dem gewaltigen Tsunami weggespült. Die Kühlung konnte somit nicht mehr gewährleistet werden. Da auch die komplette Infrastruktur hinüber ist, ist eine spontane Zwischenlösung schwer. Der Atomnotstand wurde Stunden nach dem Beben ausgerufen: Eine Kernschmelze hält man für denkbar.
Am Nachmittag des 12. März wurde eine Explosion aus einem der AKW's gemeldet. Nach ein paar Stunden, gegen Mitternacht (alles japanische Zeit) wurde von der Regierung bekanntgegeben, dass es sich dabei NICHT UM EINER EXPLOSION DES REAKTORKESSELS sondern um den EINSTURZ DES HALLENDACHES handelte. Man bemüht sich seit Stunden, eine Kühlung durch Meerwasser aufzubauen - dies sollte um 1 Uhr nachts vollbracht sein (jetzt ist es 1:15). Sollte dies erfolgreich sein, kann der GAU womöglich abgewendet werden.
Zusammenfassung: LAUT OFFIZIELLER MELDUNG GAB ES KEINE KERNSCHMELZE. Jedoch: DIE GEFAHR IST NOCH NICHT gebannt.
Mittlerweilen wurden 3 Menschen aus der Gegend als kontaminiert diagnostiziert. Es soll ihnen angeblich jedoch soweit gut gehen. Im Kontrollraum des AKW wurden bis zu 1000-fach höher als übliche Messwerte festgestellt, Ausserdem stellte man Cäsium - ein Zerfallsprodukt von Uran, in der Umgebung fest.
Das wahre Ausmass der Verstrahlung werden wir - selbst bei Stabilisierung der Lage - so schnell nicht erfahren. Generell verfolgt man hier (logischerweise) auch das Prinzip des Beschwichtigens. Es ist dementsprechend schwer, festzustellen, was stimmt und was nicht.
Momentan herrschen an den AKW Windstille. Ein Nordwind ist in den nächsten Tagen nicht zu erwarten - Tokyo ist also (vorerst) relativ sicher. Von Aufatmen kann aber keine Rede sein.
Nachbeben
--------------------
So ein schweres Erdbeben zieht unzählige Nachbeben nach sich. Alle 5 Minuten wackelt auch mein Computer. Ein mal in 1, 2 Stunden erhalten wir Nachrichten auf das Handy, dass uns gleich ein Erdbeben treffen wird (danach hat man ein paar Sekunden). Im Norden der Präfektur Nagano gab es gegen 4 Uhr morgens ein schweres Erdbeben. Auch in Niigata gab es am frühen Abend ein Beben mit der Stärke 6.1. Ich kann Euch versichern, dass die Warnungen und Nachbeben an den Nerven zehren. Das ganze wird auch noch ungefähr einen Monat so weitergehen.
Opfer
--------------------
Gute 1,000 Tote sind identifiziert. Jedoch: Allein in der Stadt 南三陸町 (Minami-Sanrikuchō) konnten rund die Hälfte der Einwohner nicht kontaktiert werden: Das sind rund 10,000 Menschen. Jedoch: In der kompletten Region herrscht Stromausfall und Telefone funktionieren auch nicht. Dementsprechend ist es momentan absolut unmöglich, auch nur annähernd korrekte Vorstellungen zu bekommen. Fest steht: Einige Dörfer und Städte wurden vom Tsunami nahezu vollständig weggespült. Die Opferzahlen werden zweifelsohne in die Tausende gehen. In meiner Präfektur wurden soweit 15 Tote identifiziert, auch hier fehlt jedoch von einigen Menschen jegliche Spur.
Lage in Tokyo
--------------------
Die meisten Bahnen fahren wieder, zahlreiche Autobahnen sind auch wieder geöffnet. Die Spitze des Tokyo Tower hat einen leichten Knick (stand aber zumindest gestern abend noch in prachtvoller Beleuchtung da). TEPCO, die hiesige Stromversorgungsfirma, kündigte an, dass man eventuell Strom in Schichten ausschalten muss - also 3 Stunden hier, 3 Stunden da usw. Grund dafür sind die Schäden an einigen Kraftwerken und der anhaltend grosse Verbrauch (Nächte sind noch kalt, und fast alle heizen mit Strom).
Versorgungsmässig bin ich nicht ganz sicher. War heute in Edogawa-ku - dem Nachbarbezirk. Dort gab es fast alles - stilles Wasser war jedoch rationiert, Brot und das meiste Tiefkühlessen war ausverkauft (Grund dafür siehe Urayasu). Die Wasserversorgung schien in Ordnung zu sein - öffentliche Bäder haben geöffnet, Wäsche hängt auf den Balkons usw.
Lage in Urayasu (mein Wohnort)
--------------------
Ca. 77,000 von 90,000 Haushalten haben kein Wasser. Wir (und ich weiss nicht, wie viele andere) haben kein Gas. Es gibt Trinkwasser an diversen Ausgabestellen, rationiert (4 Liter pro Person). Wann die Wasserversorgung wieder hergestellt werden kann, ist nicht sicher.
Supermärkte haben zwar geöffnet - manche aber nur im Notbetrieb, so sie kein Wasser haben. Alle Supermärkte sind nahezu komplett ausgeräumt - sehr viel Essbares gibt es nicht, aber ich würde die Lage noch nicht als kritisch bezeichnen. Ausverkauft sind logischerweise am meisten die Dinge, die man ohne Zubereitung (also ohne Wasser und Gas) essen kann. Es gibt dementsprechend keinen Krümel Brot zu kaufen. Wasser gibt es auch nicht zu kaufen.
Urayasu ist nahezu vollständig auf Neuland gebaut. Bei einer kurzen Fahrt durch die Stadt (und durch Kenntnisse historischer Luftbilder und der Entwicklung der Stadt in den letzten Jahrzehnten) konnte ich eine klare Linie der Zerstörungen ausmachen. Keine 100 m von unserem Haus entfernt verläuft eine vierspurige Strasse: Alles zwischen Strasse und Meer (2 bis 3 km) ist mehr oder weniger Opfer des 液状化 Ekijōka (Bodenverflüssigung) geworden: Sand und Wasser haben sich da vermischt und verflüssigt. Das äussert sich darin, dass Wasser und ein grauer Schlamm aus dem Boden tritt, Strassen und Fussgängerwege aufgeworfen werden und teilweise auch Häuser zusammenbrechen. Von uns aus gesehen hinter der Strasse kann man dies an allen Ecken und Enden feststellen, zwischen Fluss und unserer Strasse gibt es so etwas nicht.
Persönliches
--------------------
Eigentlich haben wir noch Glück im Unglück (verglichen mit den Bildern aus dem Norden sowieso): Zwar haben wir kein Wasser, aber vor uns gibt es einen Grünstreifen mit kleinem Bach, kleinen Spielplätzen usw. Dort gibt es auch Wasserhähne. Und dort kommt tatsächlich Wasser raus. Mittlerweilen - nach etlichen Gängen - steht in meinem Flur ein 70-Liter-Kübel voll mit Wasser.
Jedoch spricht sich das "Wasserloch" langsam rum - es kommen mehr und mehr Leute mit Kanistern und Eimern, teilweise aus kilometerweiter Entfernung.
In der Wohnung einer Bekannten unweit von hier gibt es zudem Gas und Wasser, weshalb wir uns heute zum Duschen eingeladen haben. Wir selber können zwar noch notgedrungen ohne auskommen, aber unser 4-Wochen-alter Sohn zeigt bereits deutlich an, dass er nun doch unbedingt wieder gewaschen werden möchte.
Mehr später. Ich danke allen für die Anteilnahme und Interesse, und hoffe, dass Ihr mir vergeben werdet, momentan keine Einzelmails und Antworten auf Fragen zu schreiben.