über das Erhabene

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von Schiller:
„Kein Mensch muss müssen“, sagt der Jude Nathan zum Derwisch und dieses Wort ist in einem weiteren Umfang wahr, als man demselben vielleicht einräumen möchte. Der Wille ist der Geschlechtscharakter des Menschen und die Vernunft selbst ist nur die ewige Regel desselben. Vernünftig handelt die ganze Natur; sein Prärogativ ist bloß, dass er mit Bewusstsein und Willen vernünftig handelt. Alle andern Dinge müssen; der Mensch ist das Wesen, welches will.
Eben deswegen ist des Menschen nichts so unwürdig, als Gewalt zu erleiden, denn Gewalt hebt ihn auf. Wer sie uns antut, macht uns nichts Geringeres als die Menschheit streitig; wer sie feiger Weise erleidet, wirft seine Menschheit hinweg. Aber dieser Anspruch auf absolute Befreiung von allem, was Gewalt ist, scheint ein Wesen vorauszusetzen, welches Macht genug besitzt, jede andere Macht von sich abzutreiben. Findet er sich in einem Wesen, welches im Reich der Kräfte nicht den obersten Rang behauptet, so entsteht daraus ein unglücklicher Widerspruch zwischen dem Trieb und dem Vermögen.

In diesem Fall befindet sich der Mensch. Umgeben von zahllosen Kräften, die alle ihm überlegen sind und den Meister über ihn spielen, macht er durch seine Natur Anspruch, von keiner Gewalt zu erleiden. Durch seinen Verstand zwar steigert er künstlicher Weise seine natürlichen Kräfte und bis auf einen gewissen Punkt gelingt es ihm wirklich, physisch über alles Physische Herr zu werden. Gegen alles, sagt das Sprichwort, gibt es Mittel, nur nicht gegen den Tod. Aber diese einzige Ausnahme, wenn sie das wirklich im strengsten Sinn ist, würde den ganzen Begriff des Menschen aufheben. Nimmermehr kann er das Wesen sein, welches will, wenn es auch nur einen Fall gibt, wo er schlechterdings muss, was er nicht will. Dieses einzige Schreckliche, was er nur muss und nicht will, wird wie ein Gespenst ihn begleiten und ihn, wie auch wirklich bei den meisten Menschen der Fall ist, den blinden Schrecknissen der Phantasie zur Beute überliefern; seine gerühmte Freiheit ist absolut nichts, wenn er auch nur in einem einzigen Punkt gebunden ist. Die Kultur soll den Menschen in Freiheit setzen und ihm dazu behilflich sein, seinen ganzen Begriff zu erfüllen. Sie soll ihn also fähig machen, seinen Willen zu behaupten: Denn der Mensch ist das Wesen, welches will.

Dies ist auf zweierlei Weise möglich: Entweder realistisch, wenn der Mensch der Gewalt Gewalt entgegensetzt, wenn er als Natur die Natur beherrscht; oder idealistisch, wenn er aus der Natur heraus tritt und so, in Rücksicht auf sich, den Begriff der Gewalt vernichtet. Was ihm zu dem ersten verhilft, heißt physische Kultur. Der Mensch bildet seinen Verstand und seine sinnlichen Kräfte aus, um die Naturkräfte, nach ihren eigenen Gesetzen, entweder zu Werkzeugen seines Willens zu machen oder sich vor ihren Wirkungen, die er nicht lenken kann, in Sicherheit zu setzen. Aber die Kräfte der Natur lassen sich nur bis auf einen gewissen Punkt beherrschen oder abwehren; über diesen Punkt hinaus entziehen sie sich der Macht des Menschen und unterwerfen ihn der ihrigen.

Jetzt also wäre es um seine Freiheit getan, wenn er keiner andern als physischen Kultur fähig wäre. Er soll aber ohne Ausnahme Mensch sein, also in keinem Fall etwas gegen seinen Willen erleiden. Kann er also den physischen Kräften keine verhältnismäßige physische Kraft mehr entgegensetzen, so bleibt ihm, um keine Gewalt zu erleiden, nichts anders übrig, als: Ein Verhältnis, welches ihm so nachteilig ist, ganz und gar aufzuheben und eine Gewalt, die er der Tat nach erleiden muss, dem Begriff nach zu vernichten. Eine Gewalt dem Begriff nach vernichten, heißt aber nichts anders, als sich derselben freiwillig unterwerfen. Die Kultur, die ihn dazu geschickt macht, heißt die moralische.

Der moralisch gebildete Mensch, und nur dieser, ist ganz frei. Entweder er ist der Natur als Macht überlegen, oder er ist einstimmig mit derselben. Nichts, was sie an ihm ausübt, ist Gewalt: Denn eh’ es bis zu ihm kommt, ist es schon seine eigene Handlung geworden und die dynamische Natur erreicht ihn selbst nie, weil er sich von allem, was sie erreichen kann, freitätig scheidet [...].



ich finde den text unheimlich interessant. macht euch mal die mühe und lest ihn. mich würds interessieren, was andere darüber denken :) .
 
scheinbar die erklärung für das gesamte handeln der menschen und außerdem ist der text wohl gegen die kirche, wenn der mensch das höchste wesen ist, was sich nicht unterordnen muss/darf/soll
 
keine erklärung, eher eine hilfe :o

und gegen die kirche würd ich nicht sagen, die kirche vollzieht ja keine gewalt am menschen.
 
Ganz interessant, kann ich vielleicht mal für Deutsch gebrauchen, thx :D

Und gegen die Kirche...o0 mit viel gutem Willen, ...jedoch war die Kirche zur damaligen Zeit eine andere als die sie heute ist.
 
Ich bin überrascht solch einen Text hier zu finden. :o

Also der Text ist sehr gut und sehr weise. Allerdings nicht wirklich primär antiklerikal, würd ich sagen, eher gegen Absolutismus und politische Unfreiheit gerichtet. Halt im Geiste der Aufklärung. Erinnert mich auch ein wenig an Nietzsches Übermenschen (weil ich grad "Also sprach Zarathustra" les...).
 
ich find er spiegelt ein stark idealistisch, absolut unrealistisches menschebild wieder. die reine theorie find ich trotzdem interessant. der mensch erhebt sich vom rest der natur durch die möglichkeit frei zu sein, macht sich diesen sonderstatus jedoch selbst zunichte :o
 
also ich seh keine direkten paralellen zu dem übermenschen ehrlichgesagt, das müsstest mir erklären :)
 
ich denk schon, dass es gegen die kirche is, wegen dieser passage

Kein Mensch muss müssen“, sagt der Jude Nathan zum Derwisch und dieses Wort ist in einem weiteren Umfang wahr, als man demselben vielleicht einräumen möchte. Der Wille ist der Geschlechtscharakter des Menschen und die Vernunft selbst ist nur die ewige Regel desselben. Vernünftig handelt die ganze Natur; sein Prärogativ ist bloß, dass er mit Bewusstsein und Willen vernünftig handelt. Alle andern Dinge müssen; der Mensch ist das Wesen, welches will.
Eben deswegen ist des Menschen nichts so unwürdig, als Gewalt zu erleiden, denn Gewalt hebt ihn auf. Wer sie uns antut, macht uns nichts Geringeres als die Menschheit streitig; wer sie feiger Weise erleidet, wirft seine Menschheit hinweg. Aber dieser Anspruch auf absolute Befreiung von allem, was Gewalt ist, scheint ein Wesen vorauszusetzen, welches Macht genug besitzt, jede andere Macht von sich abzutreiben. Findet er sich in einem Wesen, welches im Reich der Kräfte nicht den obersten Rang behauptet, so entsteht daraus ein unglücklicher Widerspruch zwischen dem Trieb und dem Vermögen.

gott als höheres wesen mit allmacht ausgestattet widerspricht dem...

die kirche bestimmt die menschen und macht sie unmündig...
 
er sagt nicht, dass die reale welt so aussieht, idealistisch eben.
klar is der gute mann kein hochgläubiger, aber wie psychojoker so schön formuliert hat ist der text nicht "primär antiklerikal". ich zumindest teile seine meinung ;)
 
in einem satz die welt ist pervers und unfair :) nicht zu begreifen für den menschen verstand :)
 
Der moralisch gebildete Mensch, und nur dieser, ist ganz frei. Entweder er ist der Natur als Macht überlegen, oder er ist einstimmig mit derselben

:/
 
Ein Potest gegen Freuds Über-Ich. Unser Über-Ich muss, da es von der Gesellschaft beeinflusst wird. Der Text handelt meiner Meinung nach von einem Leben ohne Über-Ich oder bessergesagt er propagiert, dass man endlich aufhören solle, das Über-Ich zu schaffen.
 
erm schiller ist 50 jahre vor der geburt von siegmund freud gestorben...

wie kann er da gegen freuds theorie protestieren? bibelcode?
 
texte sind zeitlos :)

was willst denn mit deinem zitat sagen :o


ah und zu icecold: hmmmm... net so ganz :D
 
Aber er protestiert gegen das, was Freud nachher als Über-Ich bezeichnet hat...
 
Na ja, das was Freud als Ich, Über-Ich und Es bezeichnet, gibt es schon bei Platon als die 3 Seelenteile nur halt unter anderem Namen. Bei Platon heißen die Vernunft (= Ich), Mut (= Über-Ich) und Begierde (= Es).

So ich muss jetzt zur Uni, kann das später noch etwas genauer ausführen...


EDIT: Wieder da.

Also nochmal kurz zur Anthropologie der Aufklärung: Die Aufklärer unterscheiden den Menschen anhand seiner Vernunft vom Tier (wie schon vorher Aristoteles). D.h. das Tier ist instinktgesteuert und hat keine Freiheit oder einen freien Willen. Der Mensch hingegen ist frei, seine Vernunft einzusetzen. Die Vernunft wird in der Aufklärung zur höchsten Instanz erhoben, alles muss sich an der Vernunft messen lassen und sich vor ihr rechtfertigen. Dadurch wurde der Mensch als vernunftbegabtes Wesen zum höchsten Wesen. Also war der Mensch nicht mehr ein Tier, das durch den Staat gelenkt und dressiert werden musste, damit es sich nicht selbst schadet (wie noch beim engl. Staatsphilosoph Thomas Hobbes... "homo homini lupus"), sondern es wurde zur moralischen Instanz schlechthin. Dadurch war dem Absolutismus der ideologische Boden entzogen, weil der König nicht besser oder schlechter beurteilen konnte, was das Beste für das Volk ist, als das Volk selbst.
Insofern richtet sich die Aufklärung gegen die feudalen und absolutistischen Systeme, also gegen weltliche Herrscher.

Religionskritik war zwar auch ein fester Bestandteil der Aufklärung, jedoch war die aufklärung nicht antiklerikal. Die Aufklärer waren keineswegs atheistisch. Zwar hat Kant als "Robespierre im Denken" (wie Heinrich Heine ihn einmal nannte) sämtliche "Gottesbeweise" als Hirngespinste entlarvt und zerschmettert (und damit Scholastiker, Rationalisten usw. argumentativ aufs Schafott geschickt), doch hat er nie daran gedacht, Gott irgendwie in Zweifel zu ziehen, da er erkannte, dass Gott weder bewiesen noch widerlegt werden kann. Was Kant aber gemacht hat (und was damals schon ein heftiges Stück war), war dass er Gott der Vernunft untergeordnet hat. Laut der Aufklärung muss sich Gott also auch vor der Vernunft rechtfertigen (so Kant; andere Philosophen sehen die Vernunft als Gott höchstselbst). Dies alles macht Kant in seiner "Kritik der reinen Vernunft".
In der "Kritik der praktischen Vernunft" (seinem Ethikentwurf) sieht Kant den Glauben an Gott und ein Paradies im Jenseits als vernünftig (wenn auch nicht beweisbar) an. Denn die Religion erfüllt nach Kant den praktischen Zweck der Hoffnung. Da es auf der diesseitigen Welt höchstwahrscheinlich (so lehrt es uns die Geschichte) nie einen Zustand vollkommen ethischer Existenz für den Menschen geben wird, ist es sinnvoll anzunehmen, dass dies im Jenseits verwirklicht werden wird, ansonsten müsste dieser vollkommene Zustand als nicht erreichbar und das Streben nach moralischer Vollkommenheit als nicht vernünftig angesehen werden.

Die Aufklärung ist also nicht antiklerikal, sie kritisiert aber sehr wohl eine unvernünftige Religion.
 
Last edited:
Die unvernünftige Religion, die damals auch herrschte, wohlgemerkt! "Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt"... und derartige Sachen.
 
die kirche befand sich aber zu der zeit im wandel, solche ablassschreiben wurden zur zeit der aufklärung wohl nicht mehr gekauft.
 
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